Coronazeit ist Wälzerzeit für mich. Sonst bin ich froh, wenn ich mehrere Bücher in kurzer Zeit lesen kann, jetzt hab ich zu meinem eigenen Erstaunen eher den langen Atem für was Dickes wie für diese 780 Seiten von Jonathan Franzen.
Beileibe keine Neuerscheinung- das Buch ist 2001 erschienen, 2002 auf deutsch. Aber man kann es wohl durchaus als Klassiker der Gegenwartsliteratur bezeichnen. Vielleicht hat es mich genau wegen dieses Rufs angezogen. Ich wollte sehen, wie es mir mit diesem Buch geht, das einige Freunde und Bekannte preisen.
Worum gehts? Enid Lambert, Mutter dreier erwachsener Kinder, möchte eine letztes Mal Weihnachten mit ihrem von Parkinson und Demenz gebeutelten Mann Alfred und den erwachsenen Kindern in ihrem Haus verbringen. Das erweist sich als nicht ganz einfach, ist die Familie doch über die USA verteilt und manche Konflikte liegen offen, andere verborgen schwelend da. Auch Partner der Kinder und Enkel erweisen sich nicht gerade als Erleichterung des Weihnachtsunterfangens.
Es geht natürlich im Kern nicht um dieses Weihnachten. Weihnachten ist nur das Symbol für den Versuch, an eine heile Welt zu glauben. Zumindest für einen eigentlich überhöhten Tag. Es geht um Familienkonflikte, um Unsicherheiten, Streitereien, es geht um verschrobene Personen, die nicht aus ihrer Haut können und sehenden Auges von einem Desaster ins nächste schlittern.
Franzens Bilder haben mir Freude gemacht. Gleich auf Seite 19 steht da:
„Und was passiert mit dem Sessel?“, fragte er. „Was passiert mit dem Sessel?“ Enid schaute den Sessel an. Ihr Gesichtsausdruck war gequält, mehr nicht. „Ich habe den Sessel noch nie gemocht.“ Das war vermutlich das Schlimmste, was sie Alfred sagen konnte. Der Sessel war der einzige Hinweis, den er je auf seine eigenen Vorstellungen von der Zukunft gegeben hatte. Enids Worte erfüllten ihn mit solcher Traurigkeit- er empfand so viel Mitleid, so viel Solidarität mid dem Sessel, so viel verblüfften Kummer über Enid Verrat-, dass er die Folie abzog, in die Arme des Sessels sank und einschlief. (Daran konnte man Orte der Verzauberung erkennen: an Menschen, die auf diese Weise einschliefen.) (…) Der Sessel war ein Denkmal und ein Symbol und durfte nicht von Alfred getrennt werden. Man konnte ihn nur umstellen, und darum landete er im Keller, und Alfred folgte ihm. So kam es, dass im Haus der Lamberts, wie in St.Jude, wie im ganzen Land, das Leben unterirdisch gelebt wurde.“
Diese eine Seite hat mich hoffen lassen, dass noch mehr derartige Schätze im Buch zu finden sein würden. Tatsächlich hat mich dann aber keine Passage mehr so beeindruckt, sie war vielleicht sogar der Grund, warum ich das Buch zu Ende gelesen habe.
Franzens Meisterschaft, Alfreds Leben anhand einer solchen Passage anzudeuten und zusammenzufassen: All die Missverständnisse, das ungelebte Leben, die Disharmonie und die Konsequenzen, die Alfred daraus zieht. Letztlich bleibt jeder sehr allein in diesem Buch. Die beiden Söhne Chip und Gary genauso wie die Tochter Denise. So viel bleibt unausgesprochen, unvollendet, ohne größeren Plan. Alle Figuren scheinen ihren eigenen Defiziten unterworfen, die letztlich die Gestaltung ihrer Tage bestimmen. Kurzzeitiger Erfolg und Glanz nach außen, Unverständnis, Einsamkeit und Verzweiflung nach innen.
Da kommt freilich die Frage auf, ob es denn immer so sein muss, das menschliche Leben. Ob diese Familie eine besonders dunkle oder doch vielmehr eine ganz normale, exemplarische Familie ist. Die Antwort darauf habe ich noch nicht gefunden.
Jedenfalls denke ich öfter an den Vergleich des Buchs mit den Buddenbrooks. Womöglich bleibt mir das Buch in ähnlicher Weise in seiner Stimmung präsent wie es die Buddenbrooks sind. Froh hat es mich nicht gemacht. Höchstens hat es mir die Möglichkeit eröffnet, Konflikte und Dramen klarer zu sehen. Und das ist kein geringes Verdienst.
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