Da ist kein Ort, der dich nicht sieht. Du wirst dein Leben ändern müssen. 

So ähnlich heißt es bei Rilke in seinem Gedicht „Archaischer Torso Apollos“ von 1908. Bei Anthony McCarten erlangt Rilke erstaunliche Aktualität. Zehn Menschen einer nicht fernen Zukunft haben sich entschlossen, bei einem Experiment mitzumachen. Sie sollen „auf null gehen“, will heißen, sie sollen komplett untertauchen. Gegen sie: die Überwachungssysteme des Spionagesystems Fusion, die ein Techpionier namens Cy Baxter und seine Mitarbeiter vertreten. 

Wer von den zehn es schafft, einen Monat unentdeckt zu bleiben, erhält drei Millionen Dollar. Das Ziel: Es soll gezeigt werden, wie sicher man sich als Bewohner eines modernen Staates fühlen darf. Nein halt, vielmehr: Es soll getestet werden, wie gut die Systeme funktionieren. Oder auch: wie gut sich damit Geld machen lässt und dass sich ein solches System gegen alle wenden kann und letztlich einige Verlierer hervorbringt. 

Totale Überwachung ist für den einen eine Vorstellung des vollkommenen Grauens, für eine andere mag sie Vertrauen wecken. Man kommt kaum aus, sich bei der Lektüre immer wieder zu fragen, wo man sich hier selbst positioniert. Sehr verschieden sind die Leute, die angetreten sind, sich der Herausforderung zu stellen. Aber im Grunde bleibt das nebensächlich- jeder ist nur eine Art menschliche Zielscheibe. Am prominentesten unter ihnen tritt Hauptfigur Kaitlyn Day hervor, eine einigermaßen unscheinbare Bibliothekarin. Im Lauf des Buches stellt sich heraus, dass es ihr nicht vor allem ums Geld geht, sie hat ihr ganz eigenes Ziel, das hier aber nicht verraten sein soll. 

Das Buch ist in einer Art Countdown geschrieben-Tag für Tag und letztlich Stunde für Stunde arbeitet sich Anthony McCarten an seinen Figuren ab. Das ist bewusst nicht ganz so positiv formuliert, denn hier sehe ich auch eine der größten Schwachstellen des Buchs. Ja, es ist schwierig, zehn Figuren lebendig zu gestalten, die zum Teil nur die kleinsten Rollen im Buch erhalten, denn die meisten werden sofort von Fusion entdeckt, da sie die Möglichkeiten moderner Überwachung kolossal unterschätzen. 

Doch ein bisschen mehr Fleisch als nur die Steckbriefe der Leute hätte ich mir doch gewünscht. Mit niemandem kann ich recht mitfühlen, zu blass bleiben sie mir alle. Zumindest für eine zentrale Figur wie Kaitlyn Day hätte ich mir das gewünscht. Doch auch sie lässt mich einigermaßen kalt- kaum ein Innenleben erkennbar. Der „Jäger“ des Katz- und-Maus-Spiels Cy Baxter hat ein paar düstere Geheimnisse, doch haben die mich nicht besonders überrascht. Wer zu Beginn schon mit wenig Sympathie punkten kann, dessen moralischer Verfall berührt nicht weiter. Die Wendungen des Buches habe ich natürlich und zum Glück nicht vorhergesehen. Und letztlich hat mich nur die Neugier bei der Stange gehalten, wie der Thriller ausgeht. 

Ja, das kann man lesen und doch ist es vielleicht vom Drehbuchschreiber McCarten schon zu Beginn mehr für den Kinogänger als für den Leser gebaut. Ein bisschen schade. Ein paar Gedanken hie und da mehr, etwas kritischeres Hinterfragen- da wäre noch Potential gewesen ohne dass die Spannung hätte leiden müssen. Im Gegenteil: ich wäre weit mehr am Schicksal der Figuren interessiert gewesen. Auch in der Frage, was die Systeme mit uns machen, wie sie uns nicht nur in diesem Spiel beeinflussen, sondern im alltäglichen Leben, bleibt das Buch blass. Allerdings könnte es sein, dass ich hier zu viel von einem Thriller erwarte und besser beraten gewesen wäre, auf den Film zu warten. Für weitergehende Fragen bin ich vielleicht mit George Orwell immer noch besser bedient.